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tinevoelcker

Witches in War. Spells from Kyiv and Berlin

Aktualisiert: 15. März 2022

Die Idee zu diesem Blog ist entstanden, als Natascha, eine Geflüchtete aus der Ukraine, mir vor wenigen Tagen von den Hexen der ukrainischen Stadt Konotop erzählte. Ich möchte diese Geschichte zum Anlass nehmen, über widerständiges Handeln, insbesondere (aber nicht ausschließlich) von ukrainischen Frauen zu erzählen, sowie einen Einblick in das Leben und die Situation von Nataschas Familie zu geben, die von einem Tag auf den anderen aus ihrer vertrauten Existenz gerissen wurde. Auch verschweige ich nicht, wie sich der Kriegsausbruch auf mein eigenes Empfinden und Denken ausgewirkt hat. Wichtiger denn je scheint es mir in Verbindung zu bleiben und einer Vereinzelung in der Krise entgegenzuwirken.


Natascha begleitet den Blog und hat ihr Einverständnis zu dem Text gegeben. Etwa zwei Mal die Woche will ich einen neuen Text online stellen. Wie lange, das wird sich zeigen. Ich hoffe, nur kurz. Ich hoffe, dass dieser Blog schon bald wieder hinfällig ist. Ich wär überglücklich, könnten wir ihn morgen zu den Akten legen.


Wenn ihr selbst Geschichten von (geflüchteten) Frauen aus der Ukraine oder anderes zum Thema mitzuteilen habt, könnt ihr mir schreiben. Gerne können es auch Berichte und Mitteilungen auf Ukrainisch sein (Natascha würde es übersetzen). Adresse hierfür ist: tinerahelvoelcker@posteo.de


13.03.2022

Über die Hexen von Konotop und Kiew


Als vor 11 Tagen in der ukrainischen Stadt Konotop in der Region Sumy im Nordosten des Landes russische Panzer einrollten, erlebten die Soldaten einen ungewöhnlichen Empfang. Frauen der Stadt stellten sich vor die Panzer und riefen: "Wir sind die Hexen von Konotop! Ihr wisst wohl nicht wo ihr seid!? Macht lieber schnell kehrt, in Konotop ist jede zweite Frau eine Hexe! Wenn ihr es wagt unsere Stadt einzunehmen, werden wir euch verfluchen und unsere Flüche werden dafür sorgen, dass ihr nie mehr ein normales Leben führen könnt! Verschwindet!"

Bereits im 19. Jahrhunderte setzte der ukrainische Schriftsteller Grigorij Kwitka-Osnowjanenko den weisen und machtvollen Frauen der Stadt Konotop mit seiner Erzählung "Die Hexe von Konotop" ein literarisches Denkmal. Und bis heute ist die Legende mit Leben gefüllt. Wie wir sehen, stellen sich im derzeitigen Krieg Frauen aus Konotop voller Stolz als Hexen den Panzern entgegen. "Hexen sind in der Ukraine etwas Positives", erklärt mir Natascha Yurchenko, die mit ihren zwei kleinen Söhnen und ihrer jüngeren Schwester seit einer Woche in Berlin ist. Sie kommen aus Kiew. Sie sagt: Kyjiv. Sie fragt mich mit ihrer hellen, freundlichen Stimme: Warum sagt ihr in Deutschland Kii-ew? Das ist die russische Aussprache. Aber es ist keine russische Stadt." Natascha spricht fast fließend Deutsch. Sie scherzt: "Ich wollte immer mal Berlin besuchen und meine Deutschkenntnisse auffrischen, aber nicht so." Ihr Mann ist noch in Kiew und kämpft in der ukrainischen Armee. Eigentlich ist er Inspektor in der nationalen Antikorruptionsbehörde der Ukraine. "Ich will ihn sehen", sagt Natascha und zum ersten Mal steigen ihr Tränen in die Augen, zugleich breitet sich beim Gedanken an ihn ein großes Lächeln über ihr Gesicht. "Es ist schwer, jetzt nicht bei ihm sein zu können." Es ist ein milder Frühlingstag, wir laufen durch den Tiergarten, die Sonne scheint, Mischa und Igor, Nataschas Söhne springen bei jeder Krokusblüte nieder und untersuchen und bestaunen die Blumen. Natascha erzählt mir, wie sehr der achtjährige Mischa die Natur liebe, neulich habe er seinen Berufswunsch geäußert: Paläontologe. "Er wird sich freuen", sagt Natascha, "wenn wir in das Naturkundemuseum gehen." Ich frage sie, wie die beiden Kinder mit der Situation zurechtkommen. Sie sagt, sie verstünden es noch nicht wirklich. "Und auch wir Erwachsenen wissen ja nicht, wie es weitergeht. Was soll ich sagen, wie lange wir hier bleiben? Ich weiß es nicht!" Die Kinder seien gestresst, weil sie sich nicht verständigen könnten und nichts verstünden. Und sogleich bekommen wir auf dem Tiergartenspielplatz den Beweis geliefert. Igor, Nataschas jüngerer Sohn, wird an der Rutsche von einem Berliner Kind im Gesicht gekratzt. Unter vertrauten Bedingungen eine blöde, wenngleich bekannte Spielplatzsituation. Hier aber löst die Verstörung Igors durch den kleinen Angriff des anderen Kindes gleich eine fundamentale Verunsicherung aus. "Warum hat das Kind das gemacht?" fragt Igor auf Ukrainisch, wieder und wieder will er es von Natascha wissen und verzweifelt daran, dass das andere Kind ihn nicht versteht. Natascha nimmt ihn in den Arm. Sogleich kommt Mischa und schmiegt sich auch an seine Mutter. Beide buhlen um den nächsten, den kuschligsten und vielleicht sichersten Platz bei Natascha. "Das letzte Jahr haben wir uns wenig gesehen, die Kinder und ich. Ich habe als Lehrerin sechs Tage die Woche gearbeitet. Wir hatten immer nur den Sonntag zusammen. Das war zu wenig. Und jetzt sind wir plötzlich 24 Stunden am Tag zusammen und das freut sie natürlich. Wir haben uns schon so lange danach gesehnt mehr Zeit füreinander zu haben" erzählt Natascha, "aber zugleich spüren wir alle, dass der Grund dafür schlimm ist und so ist es in diesem anderen Extrem auch zuviel. Nichts ist mehr natürlich."

Alle Hilfsangebote und Bemerkungen, die auf eine längerfristige Einrichtung des Lebens hier oder einen Asylstatus hindeuten könnten, weist Natascha mit Bestimmtheit zurück. "Wir haben ein zu Hause" sagt sie, "wir brauchen hier kein neues, wir brauchen hier nicht Berge von Spielsachen, wir haben zu Hause schon Berge von Spielzeugautos, warum sollen wir in Berlin auch solche Berge haben?" Sie ist sicher, dass sie bald zurückkehren können, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird.


Kwitka-Osnowjanenkos Erzählung "Hexe von Konotop" ist in 14 Kapitel unterteilt, jedes Kapitel wird eröffnet mit den Worten "Traurig und freudlos". Was in der satirischen Novelle auf den Herzschmerz des selbstgefälligen Kosakenführers Zabryokha anspielt, bekommt in Konotop im Jahr 2022 eine gänzlich andere Bedeutung. In Kwitka-Osnowjanenkos Erzählung lässt Zabryokha in einer groß angelegten Hexenjagd etliche Frauen aus Konotop im Fluss ertränken, um die wahre Hexe unter ihnen aufzuspüren, welche im Wasser nicht untergehen könne. Auf die Weise findet er die Hexe Yavdokha, nur um sich schließlich Rat bei ihr zu holen, wie er die schöne Olena dazu bringen könne ihn zu lieben. Yavdokha, die Hexe aber rächt sich für die Hexenjagd und dafür, was den Frauen aus Konotop angetan wurde, indem sie mittels ihres Zaubers eine heillose Verwirrung unter den Liebenden anrichtet, die alle Machthaber unglücklich zurücklässt.


Ich stelle mir die modernen Hexen von Konotop vor. Natascha sagte, dass das Wort "Hexe" in der Ukraine keine Beleidigung sei, sondern eine Auszeichnung. Einer Hexe wird eine besondere Kraft und Klugheit zugesprochen. Mut sowieso. Im verbrecherischen Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, greifen die Hexen in der Ukraine auf alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte zur Gegenwehr zurück. Sie drohen. Ich stelle mir vor, wie sie den verdutzten jungen Soldaten aus Russland entgegenschmettern: "Schert euch zum Teufel, wo ihr herkommt! Sagt euerm Teufel schöne Grüße von uns, nicht nur euch, auch ihn werden wir verhexen, die schlimmste Krankheit soll ihn befallen. Unsere Flüche werden ihn über den Tod hinaus verfolgen, er wird keine Ruhe mehr finden!"

Natürlich ist Natascha mit Dascha und ihren zwei kleinen Jungs geflohen, um die drei jungen Menschen in Sicherheit zu bringen, und natürlich bleibt sie bei ihnen, weil die drei buchstäblich an Nataschas Lippen hängen und ohne die kraftvolle Ausstrahlung ihrer Zuversicht verloren wären. Und doch sehe ich auch in Natascha eine Hexe, die aus der Ferne ihre Verwünschungen sendet und sie lässt anklingen, dass manch ukrainische Hexe auch sehr wohl wüßte, wie man einen Molotow-Cocktail braut, den vielleicht wichtigsten Zaubertrank in diesen Tagen.

Wir sprechen über die russischen Bombardierungen der letzten Tage. Nur ein Feigling, sagt sie, tötet Kinder. Sie sieht mich ernst und traurig an: "Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommt, dass ich einem Menschen einmal den Tod wünsche." Dascha, Nataschas jüngere Schwester, die eine Hochschule für Veterinärmedizin besuchte, steht schweigend neben uns, dann wendet sie sich ihren Neffen zu. Der Schrecken über den Einbruch des Krieges steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schaut meist auf ihr Telefon, die Augen voller Tränen. Wir können uns nicht verständigen, doch dann erzählt sie mir in gebrochenem Englisch, dass sie ebenfalls gern schreibe, zwar nur als Hobby, aber sie habe sogar angefangen einen Roman zu schreiben. Zum ersten Mal sehe ich sie strahlen und sich entspannen, als würde ihr Körper sich mit Freude an das Leben und die Normalität vor dem plötzlichen Kriegseinbruch erinnern. Ich bin neugierig und frage Dascha, wovon ihr Roman handelt. Da lächelt sie verschmitzt und sagt: "A Teenagerstory".









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