20.03.22
Ich weiß manchmal nicht mehr, welcher Tag ist und bringe die Reihenfolge von Aussagen und Ereignissen durcheinander. Es fühlt sich so an, als würde alles an einem langen Tag, oder eher während einer langen Nacht stattfinden, mit Traumbildern, die sich überlagern. Ich war vor einer Woche auf Lesereise in Bochum und Augsburg und bin prompt in einen Streit über den Krieg geraten. Ich habe mich anschließend sehr über mich selbst geärgert, wie sehr ich auf den sinnlosen Streit eingestiegen bin und mich habe provozieren lassen.
Am Abend zuvor hatte ich Natascha im Hinterhaus abgeholt, um ihr die Nachbarwohnung zu zeigen. Dascha lag auf dem Bett, vor sich den Labtop und versuchte den Online-Vorlesungen ihrer Veterinär-Kurse zu folgen, die weiterhin stattfinden, während der achtjährige Michael mit seinen Dinosaurier-Figuren, denen er die Namen Selensky und Putin gab, einen ohrenbetäubenden, alles entscheidenden Kampf ausführen ließ. Natascha mahnte ihren älteren Sohn zur Ruhe, woraufhin der Selensky-Brontosaurus in den kleinen Händen des Jungen kurzen Prozess machte und auf den Triceratops-Putin einhämmerte. Nataschas Blick huschte traurig lächelnd über Michael, dann sah sie mich an und sagte: „Mein deutscher Lieblingsschriftsteller war immer Erich Maria Remarque. Ich habe es geliebt, das zu lesen, vor allem den Roman „Drei Kameraden“. Dort erzählt er von der verlorenen Generation nach dem Ersten Weltkrieg. Und jetzt musste ich gerade wieder daran denken und ich habe Angst, dass es eine neue verlorene Generation geben wird. Schau dir Dascha an. Ihre Mitschüler kämpfen jetzt. Was macht das mit all diesen jungen Menschen?“ Ich gebe ihr den Text des ersten Blog-Eintrags zu lesen und plötzlich lacht sie und sagt: „Wir sagen in der Ukraine nicht mehr Molotov-Cocktails. Wir nennen das jetzt ‘Banderas Smoothies’.“
Bandera war ein ukrainischer Partisan im Zweiten Weltkrieg, der, wie Natascha sagt, die Russen damals das Fürchten lehrte und seither als Nationalheld gefeiert wird. Natascha sei nun immer eine derjenigen gewesen, die mit diesem Heldenkult wenig anfangen konnte. Nun aber, in diesen Tagen sei sie einverstanden, wenn plötzlich landesweit proklamiert werde, die ganze Ukraine sei Bandera und ukrainische Zivilist*innen in der Folge ‘Banderas Smoothies’ auf russische Truppen werfen würden.
Dascha fragt mich, ob ich ihr Hefte besorgen könne, für ihr Studium. Ich frage, ob sie auch ein Notizbuch benötige, ich habe drüben noch welche. Ich denke an ihren begonnenen Roman. Ich frage: Glaubst du, du kannst daran nochmal weiterarbeiten? Sie lächelt unglücklich und sagt, sie habe ja auf Russisch geschrieben. Aber wie sollte sie jetzt weiter auf Russisch schreiben!? Ich sehe ihr den Schmerz und den Verlust an – über eine Sprache, die zu ihr und ihrem Schreiben gehörte. Dascha verliert in diesem Krieg, wie so viele andere Ukrainer*innen auch einen Teil ihrer eigenen Identität, da dieser Teil mit dem Einmarsch der russischen Truppen plötzlich zum ultimativen Feind und Aggressor geworden ist.
Natascha steigt nun vor mir die Treppen des Vorderhauses hoch, steckt bitter lachend den Daumen in den Hosenbund ihrer Jeans und sagt: „Ich brauche bald neue Hosen. Seit wir Kyiv verließen, habe ich mindestens zwei Kilo verloren.“ Sie hat feuerfarbenes Haar und ihre Wangen heben sich oft, wenn sie lächelt oder aus ihren klaren Augen freundlich und zugleich ernst blickt. „Es wurde heute wieder viel russisches Militär von unserer Armee zerstört. Eigentlich müsste ich traurig sein, wenn ich von getöteten Menschen höre, weil es etwas Schlimmes ist. Aber ich kann über diese Toten nicht traurig sein. Es ist schlimm, aber ich freue mich sogar, wenn es viele sind, denn es heißt, sie können unser Land nicht mehr angreifen.“ Ich kann darauf nichts erwidern. Natascha hat die Zwangslage und das Dilemma, in dem sie sich emotional, moralisch und existentiell befindet, selbst klar benannt. Wir klingeln bei meinen Frankfurter Nachbarn, die ihre Berliner Wohnung Geflüchteten zur Verfügung stellen werden. In ein paar Tagen wird Nataschas Freundin Natalia, die mit ihren Kindern nach Polen geflohen ist, auf ihrer Weiterreise nach Leipzig hier kurz unterkommen, damit Natascha und sie sich treffen können.
Wenig später sitze ich im Zug, auf dem Weg zu meinen Lesungen und frage mich, wie ich in den Veranstaltungen Bezug nehmen kann. Bei dem Chantal-Akerman-Buch ist es nicht schwer: Chantal Akerman, die als Tochter von Holocaust-Überlebenden die Sicherheit in Europa nie für selbstverständlich nahm, sondern immer als vorübergehend ansah, jederzeit bereit ihre Koffer zu packen. Vor allem aber scheint mir ihr ethischer Kamera-Blick relevanter denn je, ihr Blick auf Menschen in prekären und verletzlichen Positionen, deren Antlitz direkt, bedingungslos und ohne Distanz mich als Zuschauerin in eine Verantwortung ruft.
Ein Schauspieler, der im Publikum saß, möchte im Anschluss mit mir über den Krieg in der Ukraine reden. Seine Mutter sei aus der Ukraine, lebe aber schon lange in Berlin und verteidige Putin: Die Ukraine gehöre schließlich zu Russland. Ich erzähle ihm von Natascha und ihrer Familie und wie es mich erschüttere zu sehen, wie diese Menschen von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben gerissen wurden. „Na, das hätten sie ja nicht tun müssen!“ „Weißt du, was auf den Straßen Kiews und in Mariupol gerade los ist?“ fahr ich ihn an und er erwidert ebenso aufgebracht: „Du glaubst doch wohl nicht, was die ukrainische Propaganda verkündet? Es ist Krieg, da sagt keiner mehr die Wahrheit!“ Dann schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen und spricht von dem Irrsinn und dem sinnlosen Leid und warum die Ukraine denn nicht aufgebe. Und plötzlich sagt er: „Wenn die Ukraine gewinnt, dient das am Ende doch nur den USA und diesem kaputten, kapitalistischen System, in dem wir leben.“ Ich starre ihn an, wir blaffen uns an, bellen wie Hunde und gehen verstört auseinander. Auf der Rückfahrt am nächsten Morgen denke ich über diesen Zusammenprall nach. Immer wieder hat er betont, dass er genau kapiere, was politisch vor sich ginge und dass es deswegen für ihn so unerträglich sei die Ukrainer*innen jetzt kämpfen zu sehen. Und plötzlich fällt mir auf, wie schematisch, fast technokratisch er auf die Kriegssituation blickte („das große Ganze“); eine Situation, die ihm – das war der Heftigkeit seiner körperlichen Äußerungen anzumerken – Angst einjagte. Die Angst teile ich. Und ich teile auch sonst fast jede Kapitalismuskritik, aber hier geht es für mich nicht um großpolitische Fragen. Im Gegenteil, von diesen großpolitischen Vorstellungen gibt es ja augenscheinlich viel zu viel.
solche systemischen Fragen kann es für mich gerade nicht gehen angesichts einer schier blindwütigen Zerstörungswut Putins – und seiner ebenso blindwütigen Anhänger*innen.
Am nächsten Tag erreicht Nataschas Freundin Natalia Berlin und wohnt mit ihren zwei Kindern, dem siebenjährigen Radomyr und der achtzehnjährigen Nastya nun auch in der Pohlstraße. Die Bekannten aus Leipzig haben ihr kurzfristig abgesagt. Es hätten schon andere Ukrainer*innen bei ihnen Quartier genommen und es sei kein Platz mehr. Also bleiben die drei in Berlin, am besten in der Nähe von Natascha, so dass sich die befreundeten Familien unterstützen könnten. Natalia lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann eigentlich in einem Haus im Grünen, etwas außerhalb von Kiew. Gebürtig ist Natalia aber aus Mariupol, jener kleinen Stadt, die seit der Belagerung durch russische Truppen und der folgenden katastrophalen Lage für die Zivilist*innen plötzlich weltbekannt geworden ist. Als Natalia mir davon erzählt, befinden sich ihre Eltern noch in der Stadt, ohne Elektrizität, ohne Lebensmittelzufuhr, ohne Wasser. Natalia atmet schwer, ihre Worte stocken, tags zuvor hätte ihre Schwester nach fünftägiger Funkstille endlich einen Anruf ihres Vaters erhalten, von einer fremden Nummer aus, mit der kurzen Nachricht: „Wir sind noch am Leben.“ Natalias Mann kämpft in der ukrainischen Armee. Wieder überschlagen sich ihre Worte: Sie weiß nicht, wo er gerade ist! Er dürfe es ihr nicht sagen. Die achtzehnjährige Nastya kommt ins Wohnzimmer und fragt, ob ich ein großes Gefäß für sie hätte. Sie hätten ihr Haustier aus Kiew mitgebracht. Nastya hält die Hand hoch. Der Fisch, ein kleiner Guppy mit einem riesigen blauen Schleierschwanz schwimmt in einem Marmeladenglas hin und her.
Ein Cousin und enger Freund von mir schreibt mir auf meinen ersten Blogeintrag hin von seinem tiefen Unbehagen, das ihm die Zwangseinberufung aller ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren bereite. Ich verstehe sein Unbehagen. Die Journalistin Juliane Frisse hat am 4.3.22 in der ZEIT dieser Problematik einen Artikel gewidmet und die brutalen, patriarchalen Geschlechterbilder, die sich darin zeigen, angeprangert. Ich verstehe, kann alle kritischen Gedanken nachvollziehen und dennoch nicht einstimmen, denn ich weiß dafür nicht genug. Ich weiß nicht, ob oder welche Möglichkeit ukrainische Männer haben, einen Kriegsdienst ohne Waffe zu leisten. Ich weiß nicht, wie dort mit jenen Menschen umgegangen wird, die sich dem Kämpfen verweigern, weil sie es nicht können, weil sie sich eher selbst etwas antun würden, als einem anderen Menschen wehzutun. Ich will schreien, wenn ich an die kämpfenden Menschen denke, die an ihrem eigenen Kämpfen, ihrer Angst, dem Schrecken über den plötzlich allgegenwärtigen Tod und Hass zerbrechen. Ich denke wieder an Nataschas Worte von der verlorenen Generation und ihre Freude über hohe Opferzahlen auf russischer Seite. Wo das Leben anderer Menschen zur existentiellen Bedrohung wird, und deren Tod folglich Anlass zur Hoffnung auf ein friedliches Leben gibt, offenbart sich die widerliche Zwangslage, in die der Krieg alle Beteiligten versetzt. Ich kann die ukrainische Verteidigungspolitik gerade nicht kritisieren. Für mich ist das nicht der richtige Zeitpunkt. Eher sollte die Problematik hierzulande zum Anlass genommen werden darüber nachzudenken, wie Deutschland in einem solchen Fall, der hoffentlich nie eintritt, denn agieren würde – und anders agieren sollte. Die Ukraine hatte für solche Debatten keine Zeit.
Drei Tage später – Natalia konnte mit ihren Kindern inzwischen in die freie Wohnung unter mir ziehen – empfängt sie mich mit ausgebreiteten Armen: Ihre Eltern sind aus Mariupol herausgekommen. Sie sind erstmal in Sicherheit. „So sicher, wie es halt gerade in der Ukraine sein kann“, fügt sie hinzu. Aber dennoch, Natalia sprüht vor Erleichterung und Energie, so als wäre das eingetreten, woran sie bei aller Hoffnung kaum mehr glauben konnte. „Es ist ein richtig guter Tag“, sagt sie. Und ich stimme zu, „Es ist ein richtig guter Tag“, und sehe, die schönste Nachricht ist die über gerettetes Leben.
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